Nachdem die Zeitung „Delmenhorster Kreisblatt“ sich offenbar weigert eine muslimische Antwort auf den Kommentar von Pfarrerin Frerichs vom 31.01.2015 in derselben Zeitung zu der Frage „Gehört der Islam zu Deutschland“ zu veröffentlichen, verbreiten wir den Offenen Brief nun hier.

Offener Brief an Pfarrerin Anne Frerichs von der Kirchengemeinde „Zu den Zwölf Aposteln“ Delmenhorst (3. Februar 2015)

Sehr geehrte Frau Frerichs,

ich schreibe Ihnen als Delmenhorster Muslim, der Ihren Kommentar vom vergangenen Samstag im „Delmenhorster Kreisblatt“ zu der Frage „Gehört der Islam zu Deutschland“, nicht einfach so im Raum stehen lassen will, auch wenn ich diese gesamte Debatte, vor allem aus historischen Gründen, für eine unangebrachte Scheindebatte halte.

Sie beginnen Ihren Kommentar damit die obige Frage präzisieren zu wollen, und stellen die Frage „Gehören Muslime zu Deutschland?“. Können Sie mir sagen, worin hier die Präzisierung liegen soll? Ich sehe hier vielmehr den hilflosen Versuch „Muslime“ von „Islam“ trennen zu wollen. Würden Sie bei der Frage „Gehört das Christentum zur Türkei?“ auch fragen „Gehören Christen zur Türkei?“ Kann es denn Christen ohne Christentum oder Muslime ohne Islam geben?

Ich will jetzt nicht jede Ihrer Formulierungen kritisch unter die Lupe nehmen (das würde den Rahmen dieses Briefes „sprengen“), aber Ihre Aufteilung in Kategorien, welche Muslime aus Ihrer Sicht  zu Deutschland gehören, und welche nicht, halte ich für mehr als nur anmaßend. Wer gibt Ihnen das Recht zu solch einer Kategorisierung? Sollten Sie als christliche Pfarrerin nicht vielmehr zwischen allen Menschen versöhnen, anstatt Mauern aufzubauen und Menschen von einander zu trennen? Woran wollen Sie überhaupt fest machen, welche Muslime zu Deutschland gehören, und welche nicht? Etwa anhand dieser oberflächlichen Merkmale, die Sie nennen? Ist das Ihr Ernst? Z.B. wer Sie nicht für den Verzehr von Schweinefleisch verurteilt, gehört zu Deutschland? Das mit dem Verzehr ist Ihre Sache, aber so viel ich weiß, existiert auch in der Bibel ein Schweinefleischverbot.

Sie sprechen über diejenigen muslimischen Schüler, die an Ihrem Religionsunterricht teilnehmen, und deswegen zu Deutschland gehören. Wissen Sie eigentlich, dass die Nichtteilnahme ein Grundrecht ist? Wie können Sie dann sagen, dass für sie nur diejenigen Muslime zu Deutschland gehören, die an Ihrem Religionsunterricht teilnehmen? Wissen Sie auch, dass es viele viele Nichtmuslime gibt, die nicht am christlichen Religionsunterricht teilnehmen? Gehören diese Ihrer Auffassung nach ebenfalls nicht zu Deutschland? Und dann noch Ihr Nebensatz „weil Sie etwas über Religion lernen wollen“. Wollen Sie damit sagen, dass diese Schüler andernorts nichts über Religion lernen würden? Ich hoffe, nicht.

Noch anmaßender wird es aus meiner Sicht bei Ihren Ansichten über diejenigen Muslime, die nicht zu Deutschland gehören. Sie beginnen diesen Abschnitt mit den Worten „aber es gibt auch andere Muslime, die es uns christlich geprägten Deutschen schwer machen, sie als zu Deutschland gehörig anzuerkennen.“ Mit der Abgrenzung „Muslime“ „Deutsche“ begehen Sie einen typischen, meist beabsichtigten – was ich Ihnen hier aber nicht unterstellen will – Fehler, implizit zu behaupten, dass Muslime grundsätzlich Ausländer sind, und Deutsche keine Muslime sein können. Kennen Sie eigentlich die hohe Anzahl der  zum Islam konvertierten Deutschen?

Aber weiter im Text, Sie schreiben: „Diejenigen, die meinen, Frauen müssten Ihren kompletten Körper bis aufs Gesicht bedecken, nur weil sie Frauen sind.“ Können Sie mir sagen, ob die heilige Maria, die aus islamischer Sicht zu den heiligsten Frauen der Menschheitsgeschichte gehört, einen Schleier trug und auch den Rest ihres Körpers bedeckte, oder nicht? Was meinen Sie? Würde man die heilige Maria heute als zu Deutschland gehörig anerkennen? Und was ist mit all den Nonnen, die Ihren Körper komplett verhüllen, bis auf ihr Gesicht? Gehören diese aus Ihrer Sicht auch nicht zu Deutschland? Außerdem haben Sie doch weiter oben gesagt, dass Muslime zu Deutschland gehören, die Ihren Glauben leben. Widersprechen Sie sich an dieser Stelle nicht selbst? Was gehört denn zum Ausleben des islamischen Glaubens? Gehört hierzu nicht auch, dass muslimische Frauen sich verschleiern? Und darf nicht laut Grundgesetz, an das sich gemäß Ihrer Aussage weiter oben („geschriebene und ungeschriebene Gesetze“) jeder hier halten soll, jeder seinen Glauben in Deutschland frei ausleben? Auch nach außen hin? Sind Sie sicher, dass Sie sich mit solchen Aussagen selbst im Rahmen deutscher Gesetze bewegen? Ich bin es nicht.

Weiter schreiben Sie: „Diejenigen, die überzeugt sind, dass nur der Islam die richtige Religion ist.“ Ja, sind sie denn nicht davon überzeugt, dass die Religion und Konfession, der Sie anhängen und folgen, die einzig richtige ist? Wenn nein, warum folgen Sie ihr dann? Und wenn ja, wo ist der Unterschied zwischen Ihnen und einem von Ihnen beschriebenen Muslim? Ich kann Ihnen sagen, dass ich natürlich davon überzeugt bin, dass der Islam die richtige Religion ist, sonst würde ich ihr nicht folgen, und selbstverständlich nach der richtigen Religion weiter suchen.

Des Weiteren beschrieben Sie Muslime, die jegliche Veranstaltung meiden, auf der alkoholische Getränke angeboten und konsumiert werden. Auch diese gehören Ihrer Auffassung nach nicht zu Deutschland. Ist das Ihr Ernst? Wieder muss ich Ihnen das Grundgesetz vorhalten, und dieses mal nicht nur das Grundrecht der Glaubensfreiheit, sondern auch das Grundrecht der ganz allgemeinen Handlungsfreiheit. Wollen Sie mir sagen, welchen Veranstaltungen ich beiwohnen soll, damit ich nach Ihrer Meinung zu Deutschland gehöre? Wäre es nicht in Ihrer Position angebrachter ebenfalls Veranstaltungen zu boykottieren, auf denen die Menschen sich selbst vergiften? Nicht weil man die Menschen verurteilt, sondern weil man Ihnen damit signalisieren möchte, dass der Alkoholkonsum ihnen mehr schadet als dass er ihnen nützt? Das ist nämlich die Intention eines Muslims, der solche Veranstaltungen meidet. Er tut dies aus Liebe zu seinen Mitmenschen, seinen Freunden, Kollegen und Schulkameraden, und nicht weil er diese verabscheut. Er möchte sie lediglich zum Nachdenken bringen.

Sie sagen zum Ende hin, dass Sie keine weitere Diktatur in Deutschland wollen. Das wollen wir Muslime auch nicht, da können Sie sicher sein. Eigentlich ist es ziemlich unverschämt von Ihnen in einem solchen Kommentar, in dem es um die Frage der Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland geht, die Gefahr einer Diktatur durch Muslime anzudeuten.

Umso trauriger ist es letztlich, wenn man uns, wie Sie es leider tun, unter dem Deckmantel der Toleranz und des Miteinanders vorschreiben will, wie wir uns zu kleiden haben, an welchen Veranstaltungen wir teilzunehmen haben, dass wir am christlichen Religionsunterricht teilnehmen sollten usw. Ist das Ihre Vorstellung von einem gleichberechtigten Miteinander? Geregelt durch „gute christlich geprägte“ Gesetze? Ich dachte immer wir leben in einem Staat, dessen Gesetze religionsunabhängig,  also neutral, sind? Sind sie eigentlich sicher, dass Sie in Deutschland leben und nicht in einem christlichen sog. Gottesstaat? Denn alles, was Sie Muslimen an Intoleranz, Engstirnigkeit und Überheblichkeit vorwerfen, fällt leider auf Sie zurück, Frau Pfarrerin, so leid es mir tut.

Ich möchte von Ihnen keine Entschuldigung, noch fordere ich Ihren Rücktritt. Alles, was ich mit diesem Brief erreichen möchte, ist, dass Sie selbst und auch andere zum Nachdenken angeregt werden. Nachdenken darüber, ob wir wirklich immer unseren Nächsten Schwächen vorwerfen sollten, die eigentlich auf uns selbst zurückfallen, Nachdenken darüber, wie wir wirklich miteinander leben können, in Toleranz, gegenseitigem Respekt und Frieden, ohne dem anderen vorschreiben zu wollen, wie er seinen Glauben auszuleben hat. Und auch Nachdenken darüber, ob diese unsägliche Debatte über die Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland letztlich nichts als eine Scheindebatte ist, die uns von wahren und wirklich dringenden Problemen dieses Landes ablenken soll.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, dass Sie Ihre Einstellung und Worte tatsächlich überdenken.

Mit besten Segenswünschen

Euer Ali

2 Gedanken zu “Offener Brief an Pfarrerin Anne Frerichs von der Kirchengemeinde „Zu den Zwölf Aposteln“ Delmenhorst

  1. Der Ansicht, man solle nicht zwischen Muslimen und dem Islam als Religion, bzw. Lebens- oder staatlicher Ordnung unterscheiden, stimme ich nicht ganz zu. Zunächst sollten wir uns bewußt machen, daß die säkularisiserten und „aufgeklärten“ Christen in den westlichen Ländern unter Religion etwas anderes verstehen als die meisten Muslime, was allein schon Konfliktstoff liefert.
    In einer Überlieferung heißt es, daß ´Abdullāh ibn az-Zubair das erste Kind war, das „im Islam geboren“ wurde. Seine mit ihm schwangere Mutter war von Makka nach Madīna ausgewandert und brachte ihn dort zur Welt. Demnach betrachteten die ersten Muslime ihr Muslimsein in Makka vor der Auswanderung nach Madīna nicht als „Islām“. Erst in Madīna hatten sie ihren eigenen Staat, in dem sie ihre Religion in allen Bereichen frei ausüben und ohne das Gefühl der Erniedrigung oder des Nichtgeachtetseins (arab.: ṣaġār) durch ihre nichtmuslimischen Landsleute leben konnten.
    Sieht man sich die derzeitige Situation der in der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen und westlichen Staaten lebenden Muslime an, so wird man kaum abstreiten können, daß viele von ihnen dort – bewußt oder unbewußt – in einem gewissen Grad ein Gefühl der Erniedrigung, des Nichtgeachtetseins oder der Degradierung auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit empfinden. Dieses Gefühl kann sowohl durch persönliche Erfahrungen als auch die Nachricht von der Erfahrung anderer Muslime verursacht werden.
    Vergleicht man bspw. die Tatsache, daß die Muslime in den muslimisch geprägten Ländern den fünfmal täglichen Gebetsruf von den Minaretten der Moscheen über Lautsprecher erschallen lassen können, mit der Situation in Deutschland, wo sie es nicht einmal wagen, die Forderung nach der Ausübung dieses Ritus zu stellen, so kann man dies nur als Ṣaġār bezeichnen. Man kann noch zahlreiche weitere Beispiel finden, wie das Kopftuchverbot für Lehrerinnen und dazu die Tatsache, daß die meisten Politiker und Gerichte in solchen Fragen gar nicht auf die Argumentation der Betroffenen, der Muslime, eingehen, sondern ihre eigene nichtmuslimische, großenteils islamophobe Argumentation als die einzig richtige ansehen. Werden Muslime in der Öffentlichkeit verbal oder tätlich angegriffen und versuchen, sich dagegen zu wehren, so drehen die Gerichte häufig den Spieß um und machen aus den Opfern Täter. Auch wenn sie selbst nicht davon betroffen sind, so vermitteln allein die Berichte hierüber den meisten Muslimen doch dieses Gefühl der Unterlegenheit und des Nichtgeachtetseins auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit.

    In Deutschland gibt es zwar eine große Zahl von Einzelpersonen und Organisationen, die sich zu Recht oder zu Unrecht als Muslime oder als islamisch bezeichnen, aber nicht „den Islam“. Anstatt von der „Geschichte des Islams in Deutschland“ sollte man lieber von der „Geschichte der Muslime in Deutschland“ sprechen und schreiben. Wann also kann man sagen, daß es in Deutschland Islam gibt? – Nach der obigen Definition wird es den Islam in Deutschland erst dann geben, wenn die Muslime dort ohne das Gefühl der Erniedrigung und ohne die Furcht vor verbalen und tätlichen Angriffen auf ihre Person und Anschlägen auf ihre Einrichtungen leben können, wenn der islamische Gebetsruf vom Minarett als selbstverständlich angesehen wird, wenn die Muslime ihre ehe- und familienrechtlichen Angelenheiten in Schari´a-Gerichten geregelt bekommen anstatt nach unislamischen Gesetzen durch Standesamt und Gericht usw.
    Daß der Islam zu Deutschland gehört, sollte so selbstverständlich sein, wie die Vorstellung, daß der Islam zu jedem Ort auf der Erde „gehört“, wo Muslime leben, auch wenn er dort nicht vollständig verwirklicht werden kann.
    Wenn der Islam zu den Muslimen gehört, dann wäre es eigentlich die Pflicht der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft und derer staatlicher und politischer Vertreter, den Islam in ihr System zu integrieren, im eigentlichen Sinne des Wortes, daß dessen wesentliche Teile übernommen und unversehrt in das bestehende Ganze eingefügt werden, nicht in dem falsch verstandenen Sinne des Wortes „Integration“, wo dieses irrtümlich mit Assimilation, der Angleichung unter Aufgabe wesentlicher Eigenheiten, verwechselt wird, wie es die meisten jedoch leider tun.
    Kurzum: Es gibt in Deutschland Muslime, zu denen der Islam gehört und damit auch zu Deutschland, aber es gibt dort (noch) nicht den Islam (in seiner ganzen Form und allen Bereichen).

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  2. Wenn man die Frage stellt, ob der Islam zu Deutschland gehört, müßte man eigentlich auch die Frage stellen, ob das Christentum zu Deutschland gehört. Waren die Deutschen schon immer Christen, oder sind sie es erst im Laufe der Geschichte geworden? Die Sachsen bspw. wurden ungefähr um das Jahr 800 n. Chr. auf Befehl Karls des Großen zwangsweise zu Christen gemacht, was somit bereits über 1200 Jahre zurückliegt. 1926 wurde die noch heute stehende Moschee in Berlin-Wilmersdorf eingeweiht, und dieser Tage feiert die Deutsche Muslimliga e. V. (DML) ihr sechzigjähriges Bestehen. Wird der Islam zu Deutschland gehören, wenn die DML einst ihr hundertjähriges Bestehen feiert, oder müssen dazu erst zweihundert Jahre vergangen sein? Oder kommt es nicht auf die Dauer der Anwesenheit und des Bestehens an, sondern auf andere Faktoren, um dazuzugehören? Die Nazis betrachteten die Juden selbst nach über tausendjähriger fortwährender Anwesenheit in Deutschland noch als Fremdkörper, den es ihnen zu entfernen galt.
    Wie Jesus Christus selbst sagte, war er nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israels gesandt (Mt. 15, 24), nicht jedoch zu anderen Völkern, wie den Deutschen. Der Apostel Paulus und seine Anhänger machten aus dem Judenchristentum – dessen Erbe der Islam ist – eine neue Religion, die sich als an alle Völker gerichtet versteht. Die islamische Religion ist als Barmherzigkeit und Rechtleitung für alle Völker gekommen, trotz der Unterschiede hinsichtlich ihrer Kultur, Rasse, Gewohnheiten und der Länder, in denen sie leben. So heißt es im Koran: „Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner gesandt“ (Sure 21, 107), also auch für die Deutschen. Selbst wenn wir die Muslime mit Migrationshintergrund außer Betracht lassen, können wir in Deutschland muslimische Familien in der zweiten oder dritten Generation finden, deren Begründer Konvertiten waren. Auch wenn diese zahlenmäßig nur relativ wenige sein mögen, kann man ihnen nicht das Recht absprechen, zu Deutschland zu gehören. Und wenn sie ihre Religion gemäß dem im Grundgesetz für die BRD verankerten Grundrecht praktizieren, soll man ihnen dann sagen: Was ihr da tut, gehört nicht zu Deutschland?

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