„Wahrlich das Märtyrium von Imam Hussein entfacht in den Herzen der Gläubigen eine Flamme, die niemals erlischt.“
So heißt es sinngemäß in einer Überlieferung über die Liebe der Gläubigen zu Imam Hussein. Aber was ist damit gemeint? Ist damit gemeint, jedes Jahr aufs Neue Tränen aus Trauer um die Ermordung Imam Husseins und seiner Gefährten zu vergießen, ohne hieraus Lehren zu ziehen? Gar sein Leben zu verändern?
Nein, das kann nicht gemeint sein. Imam Hussein braucht unsere Trauer nicht. Er braucht unsere Tränen nicht. Diese Trauer ist für uns, diese Tränen fließen für uns. Es wird Zeit, dass wir dies erkennen. Diese Trauer und diese Tränen sind eine Stärkung für uns. Aber Stärkung wofür? Um noch mehr trauern zu können? Nein, sicher nicht. Wer eine so heilige Person liebt, und aus der Liebe zu dieser Person um diese Person weint, der liebt diese Person, für das, was sie verkörpert. Und der möchte auch sein wie diese Person, auch das nachempfinden oder gar nachahmen, was diese Person verkörpert.
Wenn wir also in unseren Herzen eine Flamme aus Liebe zu Imam Hussein entfacht haben lassen, dann in erster Linie auch für die Werte, die dieser Imam verkörpert. Diese drängen sich geradezu auf: Tiefste Liebe zu Gott, höchste Stufen der Gottesehrfurcht, unabdingbare Liebe für die Gerechtigkeit, Dankbarkeit in jeder Situation, Standhaftigkeit gegenüber jeder Versuchung, Tapferkeit gegenüber den Feinden Gottes, Aufopferungsbereitschaft für die Geschöpfe Gottes (Nächstenliebe in der höchsten Form).
Aus meiner Sicht sticht ein Merkmal heraus, das wir für uns selbst noch längst nicht genug ausleben: Die unabdingbare Liebe für die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist ganz kurz gefasst ein Zustand, in dem jedes Geschöpf, die ihm zustehenden Möglichkeiten erhält der Liebe Gottes näher zu kommen.
Gerechtigkeit und der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes ist ein Grundpfeiler der schiitischen Glaubensüberzeugung. Es ist sogar ein Name Allahs („der Gerechte“). Ein Wert, dem sich die Welt heute in keinster Form mehr verschreibt, auch die Muslime nicht. Dabei sind es gerade wir Muslime, die wir diesen hohen Wert, dieses hohe Gut beleben müssen. Wir müssen aus der Liebe zu Imam Hussein unsere Trauerveranstaltungen zu Veranstaltungen umgestalten, in denen Liebe zu Gerechtigkeit gelehrt wird. Nicht nur zu Gerechtigkeit, die die Muslime vor über 1000 Jahren gegenüber Imam Hussein und seine Gefährten hätten walten lassen müssen, sondern über Gerechtigkeit, die in unserer eigenen heutigen Zeit wiederentdeckt und wiederbelebt werden muss.
Wir müssen Gerechtigkeit einfordern, für unsere Mitmenschen, für alle Entrechteten, für alle Unterdrückten, insbesondere für diejenigen, die niemand kennt, niemand hört, niemand sieht, für die mindestens 30.000 Kinder die täglich an Hunger und den Folgekrankheiten sterben, deren Namen niemand kennt, deren Gesichter nie jemand gesehen hat, deren Mütter niemand weinen sieht, sofern die Mütter überhaupt noch leben.Wir müssen Gerechtigkeit einfordern für die Kinder, die in all jenen Ländern leben, in denen der Westen militärische und wirtschaftliche Kriege gegen die einheimischen Bevölkerungen führt, damit die Menschen im Westen ihren sog. Wohlstand aufrecht erhalten können. Damit wir hier immer mit Strom versorgt sind, immer im Überfluss Fleisch, Fisch, Weizen, Obst, Gemüse, Benzin, Baumwolle und Gas haben. Damit wir für Reis, Kaffee, Tee, Mehl, Kleidung, Smartphones spottniedrige Preise zahlen können, während die Menschen, die der Westen ausbeutet, sich in ihren Ländern nicht mal Wasser leisten können. Die Ungerechtigkeit, mit der der Westen die Welt überdeckt hat, ist für einen gerechtigkeitsliebenden Menschen schon lange nicht mehr erträglich. Aber einen Zustand nicht ertragen zu können, hilft den Entrechteten nicht.
Die Devise heißt handeln, aufstehen, etwas sagen, auf Ungerechtigkeiten hinweisen, Ungerechtigkeiten im Kleinen und im Großen niemals schweigend hinnehmen, solange man selbst nicht betroffen ist. Denn letztlich sind und bleiben wir Mittäter und Nutznießer dieses ungerechten Systems, solange wir zwar um Imam Hussein weinen, aber uns für die Belange der Entrechteten nicht interessieren, außer es handelt sich um eigene „Landsleute“ oder Gleichgesinnte in der Religion. Ich wüsste aber nicht, dass Imam Mahdi nur die Welt der Schiiten, der Libanesen, der Iraker oder der Iraner von Ungerechtigkeit befreien wird und mit Gerechtigkeit füllen wird. Derartige Einschränkungen habe ich bisher den Überlieferungen, die ich zu diesem Thema gelesen habe, nicht entnehmen können.
Euer Ali