Es gibt zwei Dinge im Leben eines Libanesen, welche für diesen von existenzieller Bedeutung sind: WhatsApp und Argilé (Shisha). Der libanesische Telekommunikationsminister, mit dem ich lediglich den selben Namen teile, aber ansonsten nichts weiter gemein habe, hatte in einer Pressekonferenz am Donnerstag, den 18. Oktober lediglich die Idee geäußert, eines der existenziellen Güter der Libanesen zu versteuern:
Die Idee war, auf WhatsApp-Anrufe, aber auch auf die anderer Anbieter wie Skype, eine Steuer zu erheben. Monatlich hätten sich die Kosten pro Nutzer auf 6 $ belaufen. Diese Idee hat gereicht um die gesamte libanesische Bevölkerung im ganzen Land wutentbrannt auf die Straße zu bekommen. Die Proteste am Abend des 18. Oktobers 2019, welcher bereits jetzt als historischer Tag in die Geschichtsbücher eingehen wird, liefen nicht mal zwei Stunden, da wurde aus dem Telekommunikationsministierum verlautbart, dass man die Idee der WhatsApp-Steuer zurücknimmt. War es damit getan? Nein, die Proteste hatten erst angefangen, denn die Idee der WhatsApp-Taxe war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Seit meiner Kindheit reise ich in unregelmäßigen Abständen in mein Heimatland Libanon. Kein einziges Mal habe ich es erlebt, dass es im Südlibanon oder in allen Vierteln von Beirut durchgehend Strom gibt. Wie oft sagten mir meine Eltern: „Nutze in Beirut ja nicht den Aufzug, der könnte bei Stromausfall stecken bleiben.“ Letztlich bin ich immer davon gekommen, und den einzigen bisher stecken gebliebenen Aufzug erlebte ich am eigenen Leib tatsächlich in Deutschland, und nicht im Libanon. Aber das nur als Ironie am Rande.
Ursachen der Proteste
Im Sommer 2015 war ich ebenfalls im Libanon, wenige Wochen nachdem die Müllentsorgung des Landes eingestellt wurde. In Beirut türmten sich die Müllberge, der Gestank beim berühmt berüchtigten Müllberg von Saida war ekelerregender denn je.
Im Sommer diesen Jahres war ich wieder unten. Man merkte, dass die Lage sich weiter verschlechtert hatte. Die Leute haben kaum noch Kaufkraft. Klar, alle Menschen meckern in ihren Ländern, dass es ihnen nicht gut gehe, dass nicht genug Geld da sei. Das ist auch bei den eigentlich wohlhabenden Libanesen nicht anders. Aber dieses Mal war es doch irgendwie anders. Die Preise sind im Vergleich zu meinem Besuch im Jahr 2015 noch weiter in die Höhe geschossen. Die Löhne sind aber nicht mitgestiegen. Es gibt kaum einen Libanesen, der keine Kreditschulden hat. Aber nicht mal mehr Kredite haben die Banken vergeben. Das frustiert, vor allem wenn man jung ist, und sich eine Wohnung weder zur Miete noch zum Kauf leisten kann. Und wo wir bei jungen Leuten sind: Die Arbeitslosenquote ist ebenfalls dramatisch gestiegen. Einige, auch Regierungspolitiker, versuchen alles auf die 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge im Land zu schieben. Aber das ist zu einfach. Die Probleme gab es, wenn auch etwas abgeschwächter, bereits vor dem Syrien-Krieg. Die Ursachen der Probleme sind tiefergehend, eigentlich systemisch. Es lag mehr in der Luft als nur der Gestank des Abfalls, dessen Entsorgung seit 2015 nicht geregelt wurde.
Seit Wochen oder gar Monaten gibt es im Libanon Proteste verschiedener Gesellschaftsgruppen. Eine der bekanntesten war in den letzten Wochen die der pensionierten Militärangehörigen, deren Renten gekürzt werden sollten.
Libanon ist so ein Land, bei dem ich mich seit Jahren frage, wie die Leute dort leben, wie sie über die Runden kommen. Die Antwort ist: sie kommen nicht über die Runden, aber sie sind (Über-)Lebenskünstler, die ihresgleichen suchen. Ein Libanese kann bis zum Hals in Schulden stecken, aber er führt abends seine Frau in schicken Kleidern in einer Luxuskarosse zum Essen aus. Es ist ein Land der Schickimickis. Mit einer stattlichen Anzahl an Milliardären und Millionären. Aber es ist ein Land der Widersprüche. Eine Mittelschicht existiert faktisch nicht. Entweder ist man reich, oder man lebt am Rande des Existenzminimums bzw. weit darunter. Sozialsystem? Fehlanzeige. Eine funktionierende Infrastruktur? Die Straßen des Libanon haben mehr Schlaglöcher als der Mond Krater hat. Funktionierendes Gesundheitssystem? Nur für Leute mit Geld oder den richtigen Beziehungen. Apropos Beziehungen – im Libanon muss man nicht qualifziert für leitende Positionen sein. Entweder gehört man einer bestimmten Konfession an, oder man hat genug Vitamin B, oder beides, und schon ist ein guter Job sicher. Vetternwirtschaft, Korruption und Misswirtschaft haben den Libanon an den Abgrund gebracht, an dem er jetzt steht. Ist der Libanon pleite, bankrott, zahlungsunfähig? Nein, sicher nicht. Kapital ist da, mehr als genug. Es ist nur in den falschen Händen, an den falschen Stellen.
Trotzallem, trotz aller Widrigkeiten, trotz der Ausbeutung, trotz der Demütigungen, die Libanesen lieben ihr Land, ihre Kultur. Aus aller Welt kommen sie jährlich zurück zu Besuch, zu ihren Verwandten, ihren Freunden und Bekannten, um mit ihnen zusammen, vor allem im Sommer abends zusammen zu sitzen und einfach das Leben zu genießen, bei Tee und Argilé, und auch mit WhatsApp.
Dieses Mal sind die Korrupten „da oben“ zu weit gegangen. Sie haben den Libanesen schon alles genommen, mehr geht nicht. Und selbst eine WhatsApp-Steuer wäre nur ein weiteres Glied in der Kette weiterer Steuermaßnahmen gewesen. Manche Demonstranten meinen, bald hätte man Zähler auf die Nasen geklemmt, um zu messen wieviel Luft man ein- und austme, um auch diesen Verbrauch zu Versteuern. Das ist, so verrückt es klingen mag, der entscheidene Punkt: Den Libanesen drohte die Luft zum Atmen genommen zu werden, welches sich sinnbildlich in den verheerenden Waldbränden wenige Tag vor Ausbruch der Proteste ausdrückte. Deswegen war es auch nicht schwer, dass spontan ein Novum geschaffen wurde: Angehöriger aller Konfessionen aus allen Regionen und Städten sind am Abend des 18. Oktobers auf die Straße gegangen. Ihre Parole: Es reicht. Genug ist genug. Wir spielen dieses Spiel nicht mehr mit.
Was wird gefordert?
Aber was wollen sie genau? Wollen sie Reformen? Wollen sie ein Ende der Korruption? Wollen sie die Regierung stürzen? Gar das ganze System? Wollen sie eine Revolution? Tatsächlich sind diese Fragen bis jetzt ungeklärt. Die Meinungen hierüber geteilt, aber nicht entsprechend der Konfession oder gar der Parteizugehörigkeit, sondern enstprechend der eigenen Meinung. Auch das scheint neu bei diesen Protesten. Jeder vertritt seine eigene ganz persönliche Position, frei jeglicher politischer oder konfessioneller Färbung. Anhänger der Hisbollah, Anhänger der Lebanese Forces, des Free Patriotic Flügels, Drusen, Sunniten, Alewiten. Sie stehen da als Einzelne, unabhängig, und furchtlos. Ein weiteres Novum: Eine Barriere der Angst und (Selbst-)Zensur wurde durchbrochen. In den Hochburgen bestimmter Führungspolitiker gehen die Leute auf die Straße und protestieren gegen genau diese Politiker und Anführer. Diese halten sich derweil zurück. Mischen sich nicht unter die Demonstranten um Solidarität auszudrücken, sondern äußern sich allenfalls im Fernsehen oder per social media solidarisch, aber zurückhaltend, dem einfachen Volk das Feld, die Straße überlassend. „Das ist eure Bewegung, euer Protest, wir respektieren das, und wir wollen euren Forderungen nachkommen“, scheint ihr Credo zu sein.
Ein Gedanke zu “Proteste im Libanon – Genug ist genug (Teil 1 von 3)”